Deutsch-französischer Jugendliteraturpreis

Die Shortlist 2025 steht

20. Mai 2025
Redaktion Börsenblatt

In diesem Jahr geht es um die Sparte Jugendbuch: Je sechs deutsche und französische Titel mit großer thematischer wie künstlerischer Bandbreite hat die Jury für den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis nominiert.

Die diesjährige Auswahl mit Geschichten voller Tiefgang, Witz und sprachlicher Vielfalt spiegelt wider, was junge Leser:innen bewegt. Von humorvollen bis zu tiefgründigen, gesellschaftskritischen Geschichten bieten die nominierten Titel unterschiedliche Perspektiven auf die Welt von heute. Sie thematisieren Fragen zu Freundschaft, Identität, Verlust und Aufbruch – und der Suche nach dem eigenen Weg.

Am 27. Juni werden die 12 nominierten Titel in der saarländischen Landesvertretung in Berlin um 17.30 Uhr in einer szenischen Lesung präsentiert. Die deutsch-französische Schauspielerin Sophia Fabian verbindet die Titel auf kreative Weise miteinander,. Figuren aus unterschiedlichen Büchern begegnen sich, ihre Geschichten verweben sich zu einem roten Faden. Die Schauspielerin schlüpft in verschiedene Rollen und lässt die Stimmen der Bücher lebendig werden.

Franziska Höllbacher: "Peggys Perioden-Projekt - paint it red!", Südpol, 208 S., 18 €, ab 11

Begründung der Jury

Als Peggy während des Unterrichts plötzlich ihre erste Periode bekommt und die Mitschüler:innen dies wegen eines rotbraunen Schmierflecks auf dem Stuhl mitkriegen, wäre sie vor Scham am liebsten in den Boden versunken. Wie peinlich! Doch dank der Unterstützung der Freundin Leni und der junggebliebenen Künstlerin Lisbeth schafft sie es nicht nur, den Reifeprozess ihres Körpers zu akzeptieren, sondern darüber hinaus mit dem Perioden-Projekt, einer Ausstellung, in die alle willigen Mitschüler:innen eingebunden sind, gegen das Tabuthema Periode anzukämpfen. Einzige Bedingung für den kreativen Umgang mit der Periode lautet: Paint it red. Dabei werden die Schüler:innen vom Schuldirektor unterstützt, der bereit ist, die Schülerkunstwerke zum Verkauf anzubieten und mit dem Erlös kostenlos zu nutzende Periodenprodukte für die Schule zu beschaffen. Dank der Einbettung des Themas Periode in eine spannende, humorvolle, durch Chatverläufe und lustige Zeichnungen aufgelockerte Geschichte, gelingt es Franziska Höllbacher, das Tabu zugunsten eines unverkrampften und unbefangenen Umgangs mit dem Thema zu durchbrechen. Peinlichkeiten und Schamgefühle sollen definitiv der Vergangenheit angehören.

Houssein Kahin, Kornelia Wald: "Die Tasche", Arena, 224 S., 15 €, ab 12

Begründung der Jury

Als der Brennpunkt-Schule eine Auszeichnung für gelungene Integration verliehen wird, sollen Mohammed und seine engagierte Lehrerin ihn stellvertretend in Empfang nehmen. Doch Mohammed hat die Schule in der jüngsten Vergangenheit anders erlebt, wurde seitens der Lehrerschaft wegen seiner Herkunft diskriminiert und findet die Auszeichnung verlogen. Deshalb nimmt er sich vor, an diesem Tag ein Zeichen zu setzen – so wie auch die Einzelgängerin Emilia. Beide haben identische Sporttaschen, die letztlich durch vorurteilsbehaftetes Denken dazu führen, dass der große Tag plötzlich völlig außer Kontrolle gerät. Aber ist wirklich ein Anschlag geplant? Wer könnte dahinterstecken? Und wer trägt letzten Endes die Verantwortung für den entsetzlichen Ausgang dieses Tages? Sprachtagebuch, Online-Forum, WhatsApp-Chat – aus unterschiedlichen Perspektiven und Erzählzeiten wird hier mit erzählerisch vielfältigen Mitteln eine politisch brisante Geschichte erzählt, die auch nach der Lektüre lange nicht loslässt und den Leser:innen vor Augen führt, wie schnell auch für Vielfalt einstehende Menschen in festgefahrenes Schubladendenken rutschen können. Ein hochaktuelles Thema, das aufrüttelt und dem ein breites Publikum zu wünschen ist.

Judith Mohr: "Cole und die Sache mit Charlie", Freies Geistesleben, 208 S., 18 €, ab 13

Begründung der Jury

In Coles Leben ändert sich gerade eine Menge: Seine Mutter ist von seinem Stiefvater schwanger. Sein unzuverlässiger Vater hat eine neue Freundin. Seine Schwester Charlie, zu der er immer einen besonderen Draht hatte, zieht sich mehr und mehr zurück. Juli küsst supergut, kennt aber nicht mal seine Lieblingseissorte Eis. Ihre Beziehung fühlt sich nach Versuchsanordnung an. Maja hat eine Honigstimme. Phil ist Coles bester, nerdiger Freund, aber als er mal mit Emil skatet, ist er irgendwie sauer. Cole weiß manchmal gar nicht wohin mit seinen Gefühlen. Was ist richtig, was falsch? Eigentlich ist der Ich-Erzähler ein guter Beobachter, aber in diesem Sommer lenkt Cole das Leben immer ab, wenn er Charlie, seinem Lieblingsmenschen, auf den Zahn fühlen will. Erst als Charlie verschwindet, begreifen Cole und seine Familie, dass sie handeln müssen. Judith Mohr besticht in ihrem Debütroman durch eine miteinander verwobene Themenfülle von u.a. Patchworkfamilie, erster Liebe, Freundschaft zu Magersucht, was nie überfrachtet wirkt, außerdem durch ihre liebevoll beschriebenen Figuren mit all ihren Eigenheiten, ihren Humor und ihre Sprachbilder. Dabei stehen die Individuen immer im Mittelpunkt. Ein wohltuend zugewandter Roman, der seine Leser:innen hoffnungsvoll entlässt.

Lena Hach: "Popcorn süß-salzig", Mixtvision, 200 S., 16 €, ab 13

Begründung der Jury

Romance ist in Deutschland das bestverkaufte Jugendbuch-Genre – und Lena Hach spielt gekonnt mit einer Fülle sogenannter Tropes, die sie zu einem rasanten Verwirrspiel mit überraschenden Wendungen webt. Fake Dating, Meet Cute, Stuck together, Will they – Won’t they und Friends to Lover sind nur einige solcher stereotypen Beziehungsmuster, vor denen die 16-jährige Ich-Erzählerin Ruby warnt, über denen sie analysierend steht und in die die Figuren dennoch hineinrutschen. Hach gibt ihnen jede Menge Wortwitz und Situationskomik mit, Ruby, Guillaume und Phil brennen Feuerwerke der Ironie ab, kommentieren trocken-sarkastisch und sind trotz aller Coolness doch emotional verwundbar. Die Leser:innen erleben die Handlung nicht nur aus der Perspektive der Ich-Erzählerin, sondern bemerken zugleich auf einer Metaebene, wie Handlungsstränge drehbuchähnlich „gebaut“ werden. Fast ist wie ein Wettrennen: Sind die Leser:innen oder die Roman-Vielleserin Ruby dem Fortgang der rasant erzählten Geschichte immer eine Nasenlänge voraus? Zumal Rubys Mutter auch noch Liebes-romanautorin ist und irgendwann beschließt, das Leben ihrer Tochter schriftstellerisch auszuschlachten. Je mehr Ruby sich über abgedroschene Klischees lustig macht, umso sanfter verselbstständigen sie sich in der Realität und lassen nur noch eine Grand Gesture zu. Ein Pageturner mit viel Witz.

Eva Rottmann: "Fucking fucking schön", Jacoby & Stuart, 176 S., 16 e, ab 14

Begründung der Jury

David, Tini, Lou. Mats und Milad, Melek und Fabian, Yasin und Leyla: Es sind sowohl einzelne Figuren als auch Paarkonstellationen, die in puncto Sexualität erste Erfahrungen wagen. In zehn miteinander verwobenen Geschichten nähert sich Eva Rottmann der Gefühlswelt von Jugendlichen, die Momente größter Nähe erleben, in die sie unversehens hineinstolpern, vorbereitet scheitern, mit Situationen, die sie verfluchen und genießen und ja, am Ende ist in Wirklichkeit doch alles ganz anders. All diese Augenblicke sind noch nicht zu Ende – die Leser:innen führen sie gedanklich weiter. Zwischen allen Figuren gibt es Verbindungslinien, sie kennen sich aus der Schule; aus Nebenfiguren werden Hauptfiguren und umgekehrt. Nervosität und Peinlichkeit, Missverständnisse und Herzklopfen, Anspannung und befreiendes Lachen – Eva Rottmann fängt die emotionalen Achterbahnfahrten ihrer Protagonist:innen sprachlich gekonnt ein. Sie schreibt über etwas, über das man nicht gerne spricht und bei dem sich Kommunikation doch als unverzichtbar erweist, sie findet Worte für das, was überrascht und einen dazu bringt, mit einem Dauergrinsen durch die Stadt zu laufen.

Silke Sutcliffe: "Ein Sommer, drei Monde", Monika Fuchs Verlag, 232 S., 16 €, ab 14

Begründung der Jury

Alice und Jule sind beste Freundinnen, fast 16 und unzertrennlich. Aber dann taucht Bastian auf: Sein seltsames Verhalten fasziniert die Mädchen, jedoch auf sehr verschiedene Art. Bastian entscheidet sich für die brave, fleißige, rundliche Jule aus gutem Hause, die ihn anhimmelt. Aber auch Alice, die Ich-Erzählerin, findet ihn attraktiv. Anders als Jule, hinterfragt Alice jedoch die merkwürdigen Selbst-darstellungen Bastians: Wo steckt eigentlich sein Hund John Lennon? Warum hat Bastians Vater die Familie verlassen? Und ist Bastian wirklich krebskrank? Alice, Tochter eines alleinerziehenden Sozialarbeiters, forscht unermüdlich, kann sich aber Bastians Anziehungskraft nicht entziehen. Und er weiß, welche Knöpfe er bei ihr drücken muss, denn Alice hat ihrerseits ein schwieriges Verhältnis zur abwesenden Mutter.

Ein leidenschaftliches Dreieck der Liebe zwischen Alice, Bastian und Jule entsteht, in dem Lüge und Wahrheit nicht mehr voneinander zu trennen sind. Was Alice nach und nach über Bastian erfährt, treibt die Handlung wie einen Krimi voran. Am Ende droht die Freundschaft der Mädchen an den verschiedenen Formen der Liebe zu zerbrechen. Ein kluges und literarisches Romandebüt. Und dabei ist das Buch keine Bleiwüste: Die Grafik denkt mit. Die drei Monde kommen ebenso wie die Suche nach der Wirklichkeit nicht zur Ruhe. Und eine tolle Moon-Playlist von Rio Reisers „Junimond“ bis zu Echo & The Bunnymens „Killing Moon“ begleitet diese gefährlich-himmlische Prosa.

Flore Vesco: "De délicieux enfants", École des loisirs, 224 S., 15 €, ab 13

Begründung der Jury

"Es war einmal …" – Eine alte Frau beginnt, den Kindern des Dorfes ein Buch vorzulesen, hält aber sofort inne, nennt das alles albernen Kram und verschlingt das Buch mit einem einzigen Bissen: Vor den ungläubigen Augen der Kinder beginnt sie dann, eine weitaus schaurigere Geschichte zu erzählen als jene aus den üblichen Bilderbüchern… So beginnt diese verstörende und schonungslose Neuerzählung von Hänsel und Gretel, bei der Perrault seine zarte Feder getrost einpacken kann – wie die alte Erzählerin selbst sagt. Flore Vesco lädt dazu ein, die Perspektive radikal zu wechseln, und stürzt die Leser:innen in eine blutige und raue Geschichte, in der man sich bereitwillig treiben und erschüttern lässt. In diesem Roman geht es nicht nur darum, den Gefahren des tiefen Waldes zu trotzen oder der Hungersnot zu entkommen: Die Figuren müssen sich auch gegen das Patriarchat und seine Gewalt behaupten – das grausamer ist als jedes Monster, ob real oder ausgedacht. Ein kraftvoller feministischer Roman, der seine Leser:innen mitreißt und wachrüttelt.

Sophie Carquain: "Hikikomorie - Dans le silence de ma chambre", Albin Michel Jeunesse, 312 S., 14,90 €, ab 13

Begründung der Jury

Hikikomori: Dieser japanische Begriff beschreibt, dass sich immer mehr junge Menschen völlig aus der Welt zurückziehen und ihr Zimmer nicht mehr verlassen wollen. Ein Phänomen, das längst nicht mehr auf das Land der aufgehenden Sonne beschränkt ist. In diesem zutiefst poetischen Roman lässt uns Autorin Sophie Carquain an den inneren Qualen eines Mädchens teilhaben, die sich aus Schutz vor Mobbing in der Schule, einem tragischen Schicksalsschlag und einer zugleich liebevollen wie erdrückenden Familie für den Rückzug entscheidet. Doch auch wenn die Wände ihres Zimmers wie eine zweite Haut erscheinen – der Kontakt zur Außenwelt ist nicht ganz abgebrochen: Hinter ihrer Tür und ihrem Fenster nimmt die junge Heldin Geräusche, Gerüche und Bilder wahr. Und da sind auch die wohlwollenden Nachrichten, die auf dem Bildschirm ihres Computers aufleuchten. Kleine Lichtzeichen, aus denen sie allmählich neue Kraft schöpft – um wieder Vertrauen zu fassen, sich der Welt zu öffnen und das Leben zu umarmen.

Sophie Adriansen: "Le ciel de Joy", Flammarion jeunesse, 240 S., 16,90 €, ab 13

Begründung der Jury

Ohne Pathos oder Moralismus gelingt es Sophie Adriansen, mit großer Genauigkeit und Sensibilität von einem Weg zu erzählen, der für ein junges Mädchen in Frankreich auch heute noch schwierig ist: Zwischen gesellschaftlichen Erwartungen, familiären Mustern und dem Wunsch nach Freiheit ist Joys Geschichte vor allem eine Geschichte der Selbstbehauptung. Es ist zugleich ein eindringlicher Bericht über den Kampf gegen soziale Zwänge und Hindernisse, mit denen eine minderjährige Jugendliche konfrontiert ist, wenn sie abtreiben möchte: Erst wenn ihre Entscheidung anerkannt und respektiert wird, kann sie auch als Person und Individuum anerkannt und respektiert werden. Auch wenn Joys Entschluss feststeht, begleiten Leser:innen ihren Weg mit viel Anteilnahme, Spannung und Besorgnis. Der Roman hat fast dokumentarischen Charakter – so klar und präzise sind die Informationen, die er vermittelt. Die kurzen, eindringlichen Kapitel in Ich-Form werden immer wieder unterbrochen von Auszügen aus anderen Geschichten von Mädchen – bekannt oder unbekannt, aus der Gegenwart oder Vergangenheit, fiktiv oder real. Damit zeigt die Autorin: Joy, die leidenschaftlich gerne liest und nach Freiheit strebt, ist nicht allein. Ein zutreffender und notwendiger Roman, der auch 50 Jahre nach der Verabschiedung des Veil-Gesetzes zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Frankreich nicht an Aktualität verloren hat.

Célia Garino: "Un bout du monde", Sarbacane, 368 S., 18 €, ab 14

Begründung der Jury

Am Ende der Welt – so nennt sich das Heim der letzten Chance, in das Kelvin kommt, 15 Jahre alt und mit einem Leben voller Brüche im Gepäck. Das Schicksal des Jungen scheint längst besiegelt. Vom Leben will er nichts mehr wissen. Alles scheint längst verloren. Doch dann trifft er auf die Menschen, die diese Patchwork-Familie ausmachen und sein Bild von der Welt ins Wanken bringen: Yacine, ein kleiner Junge mit Autismus, Alicia, ein Mädchen mit Down-Syndrom, Jézebel, die kaum ein Wort spricht, Lola, mit 16 schon Mutter… und Sonja, die Pflegemutter, die über diese verletzte kleine Truppe wacht.

Mit ihren ebenso berührenden wie vielschichtigen Figuren erzählt die Autorin Célia Garino bewegende und hoffnungsvolle Geschichten von Neuanfängen. Sie fesselt die Leser:innen von der ersten bis zur letzten Seite – zwischen Lachen und Tränen, Empörung und Hoffnung. Die Behinderungen und tragischen Schicksale der vom Leben gezeichneten Figuren werden mit großer Feinfühligkeit und Genauigkeit dargestellt. Der Alltag dieser besonderen Familie ist ein bunter Mix aus Wut, Freude, Melancholie und Traurigkeit – aber auch erfüllt von kraftvollen Freundschaften. Am Ende der Welt wie am Ende des Romans wird die traumatische Vergangenheit jedes Einzelnen Stück für Stück leichter – und ein selbstbestimmtes Leben rückt in greifbare Nähe. Und das tut unheimlich gut.

Muriel Zürcher: "La fille qui creusait un trou dans la forêt", Thierry Magnier, 320 S., 17,50 €, ab 14

Begründung der Jury

Das Mädchen heißt Aleyna. Ihr Bruder Ezel ist vor einem Jahr in den Bergen verschwundenn. In ihren Träumen spricht er zu ihr – und bittet sie, ein Loch im Wald zu graben. Warum? Das weiß Aleyna nicht. Doch sie zögert nicht, macht sich an die Arbeit, unbeirrbar auf der Suche nach Antworten in der Dunkelheit und der Stille des Waldes. Aber diese Geschichte handelt nicht nur von Aleyna. Sie erzählt auch von Malone, einem jungen Mann, der alles für seine Großmutter tun würde – seiner einzigen Familie. Ein entschlossener Junge, der all das verkörpert, was es heißt, die zu beschützen, die man liebt. Und sie handelt auch von Rosalie und Auguste, zwei jungen Menschen aus dem letzten Jahrhundert, deren leidenschaftliche, verbotene Liebe durch die Zeiten hindurch weiterlebt und bis heute nachhallt…

So verweben sich all diese Geschichten, denn die Seelen der Verstorbenen – lebendig in unseren Erinnerungen und Herzen – prägen unser Leben auf subtile und tiefgreifende Weise. Sie erinnern uns daran: Der Tod ist kein Ende, sondern eine Verwandlung. Mit Witz und Feingefühl verwebt Muriel Zürcher die Schicksale dieser vielschichtigen, liebenswerten Figuren zu einem überraschenden, berührenden und meisterhaft komponierten Roman voller Licht und Tiefe.

Raphaëlle Calande: "Les mille vies d’Ismaël", Sarbacane, 384 S., 17,50 €, ab 14

Begründung der Jury

Mit 15 fliegt Ismaël von der Schule – tiefer kann man kaum fallen. Wie soll man noch an sich glauben, wenn alles aus den Fugen gerät – in der Schule genauso wie zu Hause? Eine letzte Chance bleibt ihm: ein Praktikum in der Küche eines Restaurants in Lyon. Den ganzen Tag Gemüse schälen, die Dreadlocks unter einer Haube versteckt… klingt alles andere als verlockend. Aber er hat keine Wahl.

Mit Ismaël tauchen wir ein in eine wenig bekannte Welt, deren tausend Facetten uns in einen wahren Wirbelsturm reißen. Zwischen Druck und Duft liegt ein Weg voller Lernen, voller Erfahrungen. Themen wie Stress, Rassismus, Mobbing, Übergewicht, Radikalisierung, Gewalt, Solidarität, Schuldgefühle, Freundschaft und noch mehr – die Zutaten sind zahlreich und von Raphaëlle Calande meisterhaft dosiert, die sich dabei als ebenso einfühlsame Psychologin wie passionierte Feinschmeckerin erweist. Die Sprache trifft genau den Ton – direkt, lebendig, berührend. Die Gerichte machen Appetit, die Figuren gehen unter die Haut. Und weil Ismaël in der Küche auf ein Team trifft, das mit Herzblut dabei ist, beginnt er langsam, sich selbst und seinen Platz in der Welt zu finden – jenseits aller kulturellen und familiären Brüche. Ein Buch voller Gefühl, Humor und Hoffnung – und als süßes Finale ein „Céleste“, ein Kuchen, der mehr sagt als viele Worte. Ein Leseerlebnis zum Genießen.